yvonne erber - 9. Dez, 13:52
Ich habe kein Kind, ich wollte bisher keines haben. Ich war noch nie schwanger. Ich verstehe Frauen nicht, die die Verhütung Männern überlassen. Ich verstehe aber Frauen, die einen heftigen Wunsch nach einem Kind haben; allerdings nur dann, wenn dessen Zukunft in ihre Überlegungen einbezogen wird. Und wenn es einen Vater gibt, der Vaterschaft anstrebt und nicht bereits von dem Augenblick an, wo er von der Schwangerschaft erfährt, Kindesweglegung betreibt.
Schwangere besprechen sich vor allem mit anderen Schwangeren. Freundinnen, die schwanger wurden, gingen bald auf Distanz, nachdem das Kind da war. Ich stehe also ausserhalb all dieser KKK*)-Mentalität und kann zu diesem Thema wenig besteuern.
Bei allem, was ich gehört habe, hat sich die Sorge der Frauen nicht auf das Aussehen des Kindes gerichtet, sondern darauf, dass sie beide die Geburt glücklich überstehen, dass das Kind keine Missbildungen aufweist; und dass die Mutter danach in keine Depression verfällt.
Gerade deshalb hat mich dieses Gedicht interessiert. Hier wird scheinbar ein Schlaglicht auf ein Kind nach einer gelungenen Geburt geworfen, obwohl der Titel das Gegenteil ankündigt.
Hier wird der Eindruck erweckt, als wäre das Baby schon geboren. Als würde der Arzt kontrollieren, ob alles in Ordnung ist, und zwar mit einem Röntgenblick. Als wäre es schon ein Säugling usw.
Aber es ist die Vision eines noch ungeborenen Lebens. Obwohl im Präteritum geschrieben, handelt es sich um ein Zukunftsbild. Der Blick fällt nämlich auf „Wangen, die sich/schon gebläht haben müssen.“
Noch herrscht also Ungewissheit über das Schicksal dieser noch Ungeborenen, darüber, was auf ihren ersten Atemzug folgen wird. Doch gleich wird auf deren Vergangenheit geschwenkt, und sie wird eingereiht in die Schwestern- und Bruderschaft aller Menschen.
YVONNE ERBER
*)Kinder-Küche-Kirche
Zu:
FRANZ SCHIEL
VOR DER GEBURT
ein neues Gesicht, schon
nach dem ersten Blick, dem Fruchtwasser
enthoben, dem Badewannenwasser,
den ersten Tränen.
Ich sah neue Ohren, die sich selbst
schon hörten, neue Lippen, zwischen denen
sich plötzlich Luft einsog,
lungenflügelweitend –
Luft aus dem Badezimmer, Wohnzimmer,
auch der Dinge darin; Atemhauch
der Mutter, des Vaters,
der allgegenwärtigen Hebamme.
Ich sah neue Wangen, die sich
schon gebläht haben müssen, darunter
Zunge, Gaumen, Rachen, einen Mund,
der schon Muttermilch einsog.
Ich sah einen Mädchenkörper,
der ganz meinen Vorstellungen entsprach,
ihnen formell Form gab,
sich selbst mit jedem Atemzug;
der Raum eroberte, Volumen gewann.
Ich sah Haut, die sich faltete, spannte
um Knochen, die unsichtbar blieben
an Händen, Armen, Beinen, Zehen, am Rumpf.
Ich sah ihre Zukunft voraus.
Ich sah Vergangenheit, wie sie sich
schon in ihr breit machte, aller Menschen,
deren Werk sie ist
(Montag, 31.12.2001, 2.35 Uhr)
Schwangere besprechen sich vor allem mit anderen Schwangeren. Freundinnen, die schwanger wurden, gingen bald auf Distanz, nachdem das Kind da war. Ich stehe also ausserhalb all dieser KKK*)-Mentalität und kann zu diesem Thema wenig besteuern.
Bei allem, was ich gehört habe, hat sich die Sorge der Frauen nicht auf das Aussehen des Kindes gerichtet, sondern darauf, dass sie beide die Geburt glücklich überstehen, dass das Kind keine Missbildungen aufweist; und dass die Mutter danach in keine Depression verfällt.
Gerade deshalb hat mich dieses Gedicht interessiert. Hier wird scheinbar ein Schlaglicht auf ein Kind nach einer gelungenen Geburt geworfen, obwohl der Titel das Gegenteil ankündigt.
Hier wird der Eindruck erweckt, als wäre das Baby schon geboren. Als würde der Arzt kontrollieren, ob alles in Ordnung ist, und zwar mit einem Röntgenblick. Als wäre es schon ein Säugling usw.
Aber es ist die Vision eines noch ungeborenen Lebens. Obwohl im Präteritum geschrieben, handelt es sich um ein Zukunftsbild. Der Blick fällt nämlich auf „Wangen, die sich/schon gebläht haben müssen.“
Noch herrscht also Ungewissheit über das Schicksal dieser noch Ungeborenen, darüber, was auf ihren ersten Atemzug folgen wird. Doch gleich wird auf deren Vergangenheit geschwenkt, und sie wird eingereiht in die Schwestern- und Bruderschaft aller Menschen.
YVONNE ERBER
*)Kinder-Küche-Kirche
Zu:
FRANZ SCHIEL
VOR DER GEBURT
ein neues Gesicht, schon
nach dem ersten Blick, dem Fruchtwasser
enthoben, dem Badewannenwasser,
den ersten Tränen.
Ich sah neue Ohren, die sich selbst
schon hörten, neue Lippen, zwischen denen
sich plötzlich Luft einsog,
lungenflügelweitend –
Luft aus dem Badezimmer, Wohnzimmer,
auch der Dinge darin; Atemhauch
der Mutter, des Vaters,
der allgegenwärtigen Hebamme.
Ich sah neue Wangen, die sich
schon gebläht haben müssen, darunter
Zunge, Gaumen, Rachen, einen Mund,
der schon Muttermilch einsog.
Ich sah einen Mädchenkörper,
der ganz meinen Vorstellungen entsprach,
ihnen formell Form gab,
sich selbst mit jedem Atemzug;
der Raum eroberte, Volumen gewann.
Ich sah Haut, die sich faltete, spannte
um Knochen, die unsichtbar blieben
an Händen, Armen, Beinen, Zehen, am Rumpf.
Ich sah ihre Zukunft voraus.
Ich sah Vergangenheit, wie sie sich
schon in ihr breit machte, aller Menschen,
deren Werk sie ist
(Montag, 31.12.2001, 2.35 Uhr)
yvonne erber - 9. Dez, 13:52
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